I. Haari-Oberg: Die Erfindung von Geschichte in der Schweizer Chronistik

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Titel
Die Erfindung von Geschichte in der Schweizer Chronistik.


Autor(en)
Haari-Oberg, Ilse
Erschienen
Basel 2019: Schwabe Verlag
von
Benjamin Ryser

Die Geschichtsforschung zu Mythen und Sagen der Schweiz wurde in den vergangenen Jahren durch die Arbeiten der Historiker Guy Marchal, Bernhard Stettler und Roger Sablonier geprägt. Dabei standen hauptsächlich die Gründungserzählungen der Eidgenossenschaft des 14. und 15. Jahrhundert im Zentrum des Interesses.

Die Autorin Ilse Haari-Oberg untersucht in ihrer Studie die Rezeptionsgeschichte zweier «gelehrten Sagen», die bisher von den Geschichtswissenschaften kaum in den Fokus genommen wurden. Die Trebeta-Sage erklärt die Gründung der Stadt Trier, während sich aus der Tuisto-Sage die Herkunft der deutschsprachigen Volksstämme ableiten lässt. Diese beiden Erzählungen, welche im 16. und 17. Jahrhundert im eidgenössischen Raum verbreitet waren, analysiert sie regional vergleichend, indem sie ausgewählte Quellen der Eidgenossenschaft solchen aus Schwaben gegenüberstellt. Haari-Oberg interessiert sich in erster Linie für Fragen nach der Wirkung der beiden Sagen auf das Geschichtsbewusstsein in den beiden Gebieten während des 16. und 17. Jahrhunderts sowie für das methodische Vorgehen der Autoren, welche die Sagen tradierten. Diesem Erkenntnisinteresse geht sie nach der Einleitung in acht Kapiteln nach.

In einem ersten Schritt werden zuerst Ursprung, Inhalt und Rezeption der beiden Sagen thematisiert. Die Gründungssage der Stadt Trier geht bis ins 10. Jahrhundert zurück und findet einen Höhepunkt ihrer Verbreitung während der Burgunderkriege. Die Tuisto-Sage war hingegen bereits dem römischen Politiker und Historiker Tactitus bekannt. Ende des 15. Jahrhunderts gab Annius von Viterbo mit seiner Sammlung antiker Quellen, den sogenannten Antiquitates, eine wichtige Quellengrundlage heraus. Darin kommentierte Annius von Viterbo einerseits die Tuisto-Sage selbst und andererseits edierte er einen Text eines gewissen Berosus. Zudem gelang es ihm, Tsuito als Adoptivsohn Noahs darzustellen. Wie die Autorin herausarbeitet, dienten die Antiquitates vielen Historikern des 16. und 17. Jahrhunderts als Quellengrundlage. Dank Viterbo konnten sie ihre Chroniken demnach mit der biblischen Figur Noahs beginnen lassen.

In zwei grossen Untersuchungskapitel (Kapitel 5 und 6), widmet sich die Autorin ausführlich rund 40 für die Fragestellung relevanten Werken von 34 Autoren im Zeitraum zwischen 1509 und 1678. Dabei wird jeder untersuchte Autor vorgestellt und Auskunft über «seine Bildung und Konfession, zur Vorlage, literarischen Gattung, zum Auftraggeber sowie zum methodischen Vorgehenden» (S. 88) gegeben. Leider wird die Auswahl der untersuchten Werke weder im sehr kurzen Unterkapitel 1.4 (S. 36 f.) noch im Kapitel 3 (S. 69–78) genauer erörtert.

In Kapitel 7 präsentiert Haari-Oberg die Resultate des Vergleiches. Die eidgenössischen und schwäbischen Autoren erklärten anhand der Tuisto-Sage aus den Antiquitates die Gründung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Die Sage diente zudem sowohl in der Eidgenossenschaft als auch in Schwaben zur Rechtfertigung der Translatio Imperii. Die Autorin leitet aus den untersuchten Überlieferungen der Trebata-Sage im Zusammenhang mit der Gründung der Stadt Zürich plausibel ab, dass es den Autoren vor allem darum ging, Zürichs Stellung innerhalb der Eidgenossenschaft als «Vorort» zu untermauern. Die Reformation änderte an diesem Anspruch nichts. Im Falle von Basel und Solothurn, deren Gründungen ebenfalls im Zusammenhang mit der Sage in Verbindung gebracht worden waren, und manchen Städten Schwabens wurde die Trebata-Sage hingegen nicht für ähnliche Legitimationsstrategien herangezogen. Dafür stellt Haari-Oberg fest, dass die Autoren der Eidgenossenschaft und Schwabens die beiden Sagen zu verknüpfen begannen, um linksrheinische Gebiete als germanisch zu charakterisieren und somit deren Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zu erklären. Die Autorin kommt zum Schluss, dass die «Sagenmotive zur Reichsgründung und zur Erweiterung des Reiches in beiden Ländern die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Reich und Kulturkreis ausdrücken» (S. 289).

In Kapitel 8 stellt die Autorin zuerst prosopographische Beobachtungen über die 40 Autoren, deren Werke sowie Auftraggeber an. Danach beschreibt Haari-Oberg ihre Feststellungen zu den Methoden der Chronisten der Frühen Neuzeit. Sie ermittelt, dass Historiker der Frühen Neuzeit stärker als diejenigen des Mittelalters versuchten, Namen von Völkern und Städten etymologisch herzuleiten. Die Autorin kommt zudem zum Schluss, dass die Chronologie das wichtigste Hilfsmittel beim Abfassen von Geschichtswerken in der Frühen Neuzeit war. Dabei zeigt sie, dass den Chronisten zwar ein modernes, wissenschaftliches Verständnis der Quellenkritik fehlte, sie aber dennoch in ihrer Arbeit gewisse Elemente einer modernen Quellenkritik wie beispielsweise die Verifizierung aufgrund des Quellenvergleichs und damit einhergehend das möglichst präzise Datieren von Ereignissen anwendeten. Bezugnehmend auf die Debatte rund um die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung glaubt Haari-Oberg deshalb, dass sich die These, wonach die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft von den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert ausgegangen sei, nicht stützen lasse (S. 308). Ob sich allerdings die Methoden der frühneuzeitlichen Chronisten aufgrund einiger gemeinsamer Elemente der Quellenkritik tatsächlich mit der modernen Auffassung von Geschichte als Wissenschaft verbinden lässt, kann kontrovers diskutiert werden.

Insgesamt fällt auf, dass sich die Autorin nicht der neusten Forschungsliteratur bedient hat. Die meisten zitierten Werke sind älter als zwanzig Jahre. Die Beschreibung der Forschung zur Geschichtswissenschaft in der Eidgenossenschaft endet mit der Jubiläumsschrift von 1991 (S. 19). Es ist hingegen der Verdienst der Autorin, dass sich die Geschichtswissenschaft durch ihren Beitrag zum ersten Mal der «seit Beginn des 16. Jahrhunderts in der eidgenössischen Chronistik tradierten Tuisto-Sage» (S. 21) annimmt. Die von Haari-Oberg aufgestellten Thesen (S. 311) und ihre aufgeworfenen Fragen (S. 312–317) sollten daher bei weiteren Untersuchungen zur Geschichte der Geschichtsschreibung in der Frühen Neuzeit reflektiert werden.

Zitierweise:
Ryser, Benjamin: Rezension zu Haari-Oberg, Ilse: Die Erfindung von Geschichte in der Schweizer Chronistik. An den Beispielen der Trierer Gründungssage und der «Germania» des Tacitus des 16. und 17. Jahrhunderts, Basel 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 464-465. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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